[Text Janina Martynowa, übersetzt von Vera Vasilyeva]
Vom 1. Mai 2025 bis zum 5. Mai besuchten Angehörige ehemaliger Häftlinge des KZ Neuengamme aus der Ukraine Hamburg und nahmen an den Gedenkfeierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Kriegsendes teil. Die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und der Freundeskreis hatten sie eingeladen.

Angehörige aus der Ukraine und Gäste aus Hamburg vor dem Klinkerwerk. Foto: Uliana Kasever.
Janina Martynowa, die Enkelin des ehemaligen Häftlings Nikolai Avdeenko aus der Ukraine fasst ihre Eindrücke von der Reise und dem Aufenthalt zusammen:
Eine Woche vorher…
Wir bereiten uns vor, voller Aufregung. Der 24. April, Kiew. Wir werden von den lautesten Explosionen geweckt: Raketen, dann ein Angriff der Shaheden. In dieser Nacht sterben Menschen, darunter auch Kinder. Das tut weh. Wir glauben nicht, dass wir nachher fahren können, aber wir hoffen es sehr. Schließlich steht ein Treffen in Neuengamme bevor.
30. April 2025
Am Busbahnhof in Lviv lernen wir Lyubov und Antonina kennen. Sie kamen aus Charkow – beim Einsteigen in den Zug gerieten sie unter den Angriff von Shaheden. Lyubov Rudneva ist die Frau von Anton Rudnev, einem ehemaligen Häftling von Neuengamme, der 2024 gestorben ist. Wir finden sofort eine gemeinsame Sprache und sind von gegenseitiger Sympathie erfüllt.
1. Mai 2025
Die endlose Nacht im Bus liegt hinter uns. Müde aber glücklich kommen wir in Hamburg an. Am Bahnhof werden wir von Alexandra empfangen – unserem Schutzengel mit großem Herzen, ihre Fürsorge für uns ist unbezahlbar. Wir können nicht glauben, dass wir schon hier sind! Ein herzliches Treffen mit Valentina (Tochter eines ehemaligen Häftlings und Anatoly, (Sohn eines ehemaligen Häftlings, das Kennenlernen von Sofia und Lisa, ihren Begleitpersonen. Wir freuen uns auch darauf, Nikolai und seine Tochter Irina bald wieder begrüßen zu dürfen. Uns alle verbindet die Liebe zu unseren Angehörigen, die die Schrecken von Neuengamme erlebt haben.

Angehörige aus der Ukraine am Hamburger ZOB. Foto: Alexandra Köhring.
2. Mai 2025
Nachdem wir uns von der Straße erholt haben, machen wir uns auf zu einer Fahrt mit der Elbfähre. Hamburg ist wunderschön, wir genießen die schönen Aussichten und die Gespräche. Vera ist bei uns – ein weiterer unserer geduldigen und fürsorglichen Engel. Abends – das lang ersehnte Abendessen mit Heidburg im Hotel in Bergedorf. Ihre Energie, Lebensfreude und Fürsorge sind für jeden von uns eine Inspiration.
3. Mai 2025
Wir sind in Neustadt: wunderschöne Landschaft, unglaubliches Meer, Vogelgezwitscher. Und gerade hier starben vor 80 Jahren 7000 Menschen…
Die Redner führen uns zurück zu jenem schrecklichen Tag des 3. Mai 1945. Sie sprechen über die Tragödie, die sich hier ereignete, ziehen Parallelen zur aktuellen Situation in der Welt und rufen dazu auf, die Erinnerung zu bewahren und der Opfer zu gedenken.
Nieves Cahal Santos erzählt die Geschichte ihrer Onkel, die hier starben. Ihr Auftritt berührt die Tiefen der Seele.
Der Auftritt der Schüler ist ein wichtiger Teil der Veranstaltung und stellt eine untrennbare Verbindung zwischen den Generationen dar.
Die Denkmäler sind von Kränzen und frischen Blumen umgeben, die nacheinander in einer stillen Zeremonie niedergelegt wurden
Danach findet eine feierliche und traurige Zeremonie am Ort des Schiffsunglücks statt: ich konnte 2024 daran teilnehmen Blumen auf dem Wasser, der durchdringende Klang des Schiffshorns, Gefühle, die sich nur schwer in Worte fassen lassen.
Anschließend fahren wir zurück nach Hamburg und in die KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Wir befinden uns auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme. Und es ist wieder voller Stimmen. Doch heute sind dies keine Stimmen der Angst und des Schreckens, sondern Stimmen tiefen Respekts, Stimmen der Erinnerung, Stimmen der Wahrheit.
Zu den Rednern zählt unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz. Er betont die Bedeutung der Gedenkveranstaltungen und die Verdienste der Gedenkstättenmitarbeiter. Für uns Ukrainer ist es besonders wichtig zu hören, dass er seine Rede mit dem Krieg verbindet, den Russland gegen die Ukraine führt.
Und wieder die Stimmen – sie erklingen von überall her. Dabei handelt es sich um Botschaften ehemaliger Häftlinge, die auf dem Gelände einer ehemaligen Ziegelei platziert wurden. Ihre Worte liest man nicht nur – sie hört man mit dem Herzen. Sie sind hier bei uns.
Helga Melmeds Vortrag ist eine Erzählung über die Geschichte eines kleinen jüdischen Mädchens, das den Holocaust überlebte. Die Geistesstärke dieser unglaublichen Frau ist erstaunlich. Sie fordert uns auf, unsere Stimme gegen Hass und Demütigung zu erheben, freundlich zu sein und uns um unsere Nächsten zu kümmern. In einem einzigen Impuls erhebt sich das Publikum und spendet als Zeichen der Bewunderung und des tiefen Respekts lange Ovationen. Wahrscheinlich wischt sich in diesem Moment jeder die Tränen aus den Augen.
Blumenniederlegung am Denkmal.
Der Abend klingt mit einem Abendessen aus, bei dem wir uns unterhalten und die Erlebnisse dieses ereignisreichen Tages austauschen.
4. Mai 2025
Der Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Oliver von Wrochem, und die Präsidentin der Amicale Internationale KZ Neuengamme, Martine Letteri, begrüßen alle Anwesenden im Haus der Erinnerung. Heute wird ein neues Nationaldenkmal enthüllt. Die Erweiterung des Internationalen Mahnmals von 1965 eröffnet neue Möglichkeiten für ein multinationales Gedenken, zumal die alten Gedenksteine der früheren UDSSR und der sozialistischen Republiken Jugoslawien und der Tschechoslowakei historisch überholt sind und durch die neuen Namen der postsozialistischen Zeit ersetzt wurden. Ferner wurden die Namen anderer Staaten, aus den Menschen nach Neuengamme und seine Außenlager deportiert wurden, ergänzt.
Die Rede von Irina Tybinka, Generalkonsulin der Ukraine in Hamburg, beeindruckt alle. Sie nennt die Dinge klar und durchdacht beim Namen und spricht über den vergangenen und den gegenwärtigen Krieg. Ihre Worte klingen wie Axiome: „Es gibt keine Kriege anderer Völker“, „Wer die Geschichte nicht gelernt hat, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“
Wir lernen die Geschichte von Vincent de Kom kennen, einem mutigen Mann aus Suriname, der sein Leben dem Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit gewidmet hat. Einer seiner Nachkommen berichtet darüber.
Vom Haus der Erinnerung gehen wir zum neuen Denkmal, um das Andenken aller zu ehren, die hier gestorben sind, und aller, die überlebt haben, aber ihr Leben lang tiefe Narben in ihren Seelen trugen. Die neue Gedenktafel hat eine runde Form und die spiralförmige Anordnung der Länder vermittelt ein Gefühl der untrennbaren Verbindung zwischen ihnen. Voller Bangen finden wir УКРАЇНА und legen Blumen nieder.

Angehörige aus der Ukraine mit der ukrainischen Botschafterin am Ländergedenkzeichen. Foto: Uliana Kasever.
Der nächste Programmpunkt ist das Drucken der Plakate am Ort der Verbundenheit. Für einige wird es das erste Mal sein. Der Prozess des Druckens ist nicht nur kreativ, sondern auch zutiefst persönlich. Auf diese Weise können sich die Angehörigen auf die Erinnerung an einen geliebten Menschen konzentrieren und ihre Erinnerungen mit anderen teilen.
Angehörige ehemaliger Häftlinge erzählen uns auf den Plakaten die Geschichten ihrer Lieben. Jeder einzelne bereitet dem Herzen Schmerz. Heute präsentieren die Angehörigen, die an der Gedenkfeier 2025 teilnehmen hier ihre Poster.
Und nun kommt der Höhepunkt: Die Angehörigen stellen sich mit den Druckplatten in der Hand in einer Reihe auf und rufen nacheinander den Namen ihrer Angehörigen. In diesem Moment fühle ich eine besonders starke Verbindung zu meinem Großvater, Nikolai Avdeenko. „Danke für alles. „Ich liebe dich“ – diese Worte klingen in meinem Herzen. Ohne Zweifel ist dies der emotionalste Moment für alle.
Für unsere Gruppe ist heute ein weiteres wichtiges Ereignis geplant. Im „Zelt der vielfältigenErinnerung“ nehmen wir teil an der Präsentation eines Buches, das die Geschichte des ehemaligen Häftlings des Konzentrationslagers Neuengamme, Anton Rudnev, erzählt
Die Autoren des Buches sind Swetlana und Jewgenij Telucha, talentierte Historiker aus Charkiw, die sich seit vielen Jahren mit dem Thema der persönlichen Erinnerungen und der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg beschäftigen. Ihr Buch heißt „Graphic Narratives of War“.
Dieser Moment ist von großer Bedeutung für Antons Frau, Ljubow Rudnewa, die aktiv an der Entstehung des Buches beteiligt war. Eine weitere sehr persönliche Geschichte wird Teil der gemeinsamen Erinnerung.
Und natürlich darf die gefühlvolle Darbietung des ukrainischen Hits „Obiymy“ der Gruppe „Okean Elzy“ durch die Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Uljana nicht unerwähnt bleiben.

Angehörige aus der Ukraine präsentieren Druckplatten am Ort der Verbundenheit. Foto: Uliana Kasever.
5. Mai 2025
Und schon müssen wir unsere Sachen wieder packen. Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Wir hatten aber dabei eine wunderbare Gelegenheit zum Entspannen und Plaudern. Vielen Dank an Alexandra und Ulugbek für ihre Gastfreundschaft und den köstlichen Pilaw.
P.S.: Ich möchte dem gastfreundlichen Deutschland, allen Mitarbeitern der Gedenkstätte Neuengamme sowie dem Freundeskreis der KZ-Gedenkstätte Neuengamme von ganzem Herzen für ihre großartige Arbeit, ihre Fürsorge und Unterstützung danken und allen ehrenamtlichen Helfern für ihre Freundlichkeit. Mein besonderer Dank gilt allen Musikern und Künstlern.
Diese Reise hat für uns alle eine besondere Bedeutung. Sie ist nicht nur eine Reise. Sie ist ein Akt der Erinnerung, der Liebe und der Hoffnung. Gerade jetzt, in Zeiten des Krieges, dürfen wir die Hoffnung nicht verlieren. Hoffnung auf ein Leben in einer Welt der Freiheit und Demokratie – in einer Gesellschaft, in der die Menschenwürde geachtet und geschützt wird, in einer Welt ohne Kriege und Gewalt.